Die Autoren

Deutsche Opfermythen

Zehn Jahre lang hat die Historikerin Francesca Weil die sächsische Gesellschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs erforscht und bewegende biographische Miniaturen zusammen getragen. Was sie über Rassismus, Antisemitismus und deutsche Opfermythen herausfand, ist hochaktuell und betrifft ganz Deutschland. 

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Das Ehepaar Menzel litt sehr unter der räumlichen Trennung. Aber sie blieben einander nah. Vermissten und umsorgten sich wortreich, in insgesamt 1.800 Briefen. Martin war im Jahr 1941 als Justizbeamter ins sogenannte Generalgouvernement, wie die besetzten polnischen Gebiete hießen, versetzt worden. Hildegard lebte mit dem gemeinsamen Sohn weiter im kleinen sächsischen Ort Dittelsdorf. Ihr Briefwechsel zeugt von Verbundenheit – aber auch von kalter Menschenverachtung.

Am 20. November 1941 beschreibt Martin Menzel seiner Frau das Lubliner Ghetto in der historischen Altstadt, wo die Juden zusammengepfercht wurden. "Furchtbare Gestalten" treffe er dort: "Affen sehen dagegen sauber und menschenähnlich aus." Kein Gedanke, dass es der staatliche NS-Terror war, der die Juden entmenschlichen sollte. In einem Brief Martin Menzels vom 3. Februar 1944 geht es um drei getötete Deutsche. Als Vergeltung seien auf dem Sternplatz in Lublin 30 Polen erschossen worden. Seine Frau bedankt sich für diese Anekdote: "Der Sternplatz ist doch bei B.s früherer Wohnung? Es ist schön, wenn Du mir so was schreibst und ich mich gleich auskenne." Kein Wort des Mitgefühls für die Ermordeten. "Die Menzels verband eine tiefe Liebe", sagt Francesca Weil. "Aber Mitgefühl für Juden oder ermordete Zivilisten empfanden sie nicht. Antisemitismus und Rassismus schränken offenbar die Empathiefähigkeit ein."

Die Historikerin sitzt vor dem imposanten Portal der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und erzählt davon, wie sie zehn Jahre lang historische Puzzleteile sammelte, um ein genaues Bild von der sächsischen Gesellschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs zu gewinnen.

 

Link zur Reportage “Was Sachsens NS-Geschichte für ganz Deutschland bedeutet”, erschienen bei T Online:

 

https://www.t-online.de/nachrichten/wissen/geschichte/id_90151176/zweiter-weltkrieg-was-sachsens-ns-geschichte-fuer-ganz-deutschland-bedeutet.html

ein Beitrag von:
Michael Kraske


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über den Autor
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Michael Kraske, geboren 1972 in Iserlohn, Studium der Politikwissenschaft, Journalistik und Neueren Geschichte. Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule. Sein politisches Sachbuch “Der Riss - Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört” (Ullstein 2020) stand auf der Bestenliste von DIE ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur und wurde mit dem renommierten Spezialpreis der Otto-Brenner-Stiftung für kritischen Journalismus ausgezeichnet. Aktuell: “Tatworte - Denn AfD & Co. meinen, was sie sagen” (Ullstein 2021) sowie als Mit-Herausgeber “Demokratie braucht Rückgrat - Wie wir unsere offene Gesellschaft verteidigen.” (Ullstein 2021). Sein Roman-Debüt "Vorhofflimmern" (freiraum-verlag 2016) erzählt von einer Hamburger Familie, die in den deutschen Osten auswandert und an rechter Gewalt zu zerbrechen droht. Der Roman “24/7” (freiraum-verlag 2018) handelt von Versuchung und Verführbarkeit.

Reportagen, Porträts und Essays u.a. für Spiegel Online,  Die Zeit, stern,  Geo, Tagesspiegel und Psychologie Heute,. Der Autor ist gefragter Gesprächspartner in Radio und TV zu den Themen Ostdeutschland, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus und wurde mehrfach für seine publizistische Arbeit ausgezeichnet. Neben sozialen und politischen Themen publiziert Kraske auch zu psychischen Krankheiten, Liebe und Tod.  Seine Geschichten erzählen von Ausgebrannten, Revolutionären, Borderlinern, Escort-Damen, Hassobjekten, Depressiven, Lebensrettern, Geflüchteten und Sterbebegleitern. Seit vielen Jahren beschreibt er die Folgen einer gesellschaftlichen Radikalisierung durch Rassismus, rechte Gewalt und institutionelles Versagen und schaltet sich essayistisch in gesellschaftliche Debatten ein. 

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