Die Autoren

Mit staatlicher Gewalt

Lärm in der Küche, Ruhestörung, Polizei-Routine. Kurz darauf sind zwei Menschen verletzt, eine schwangere Frau liegt im Krankenhaus. Hat ein Missverständnis dazu geführt? Oder gingen die Beamten rücksichtslos vor, weil sie es mit Migranten zu tun hatten. Die Aufklärung ist schwierig - gerade in Sachsen.

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Bevor es klingelt, hört Christo Baltev einen Tritt gegen die Wohnungstür. Der 45-jährige Familienvater hat sich in einer Videokonferenz mit Angehörigen in Bulgarien unterhalten, in der kleinen Küche, bei geöffnetem Fenster. Vor dem Mehrfamilienhaus in Chemnitz mag sich das angehört haben, als werde laut gefeiert, während überall strenge Kontaktbeschränkungen gelten.

Es ist der Abend des 18. April, nach 19 Uhr. Der Vorabend des orthodoxen Osterfestes. Christos Frau Maria, 26, hat gerade ihre Tochter gebadet, die noch nicht wieder angezogen ist. Außer den Eltern und ihren drei Kindern im Alter von ein, vier und acht Jahren, ist niemand da. So erzählen sie es heute. Der Vater öffnet die Tür. Davor stehen Polizisten. Baltev meint, sich an sechs Beamte zu erinnern. Er fragt, warum die Polizei da ist. Glaubt zu verstehen, dass es um die Corona-Verordnung geht. Die Beamten fragen, wer sich in der Wohnung aufhält. „Meine Frau, drei Kinder, bitte guckt“, sagt der Vater in gebrochenem Deutsch und bittet sie hinein. Ein Beamter filmt. Routineeinsatz. Dann gerät alles außer Kontrolle.

Was genau geschehen ist – darüber gibt es widersprüchliche Sichtweisen. Zwei Anzeigen liegen vor. Die Familie Baltev, die eigentlich anders heißt, mit ihrem echten Namen aber nicht in der Zeitung stehen möchte, hat die Polizisten angezeigt. Die wiederum das Ehepaar, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Es gibt Hinweise darauf, dass die Beamten unverhältnismäßig brutal gegen die Familie vorgegangen sind. Dass solch ein Verhalten seinen Ursprung in rechten Tendenzen und rassistischen Denkweisen in der sächsischen Polizei haben könnte. Und dass es wahrscheinlich zu keiner Aufklärung kommen wird.

Geschwollenes Gesicht, Bluterguss

Fest steht, dass Christo nach dem Polizeieinsatz aufgeregt seine Schwester anruft, die mit dem deutschen Schwager kommt. Aufgelöst seien beide gewesen – und verletzt, erinnern sich Schwester und Schwager. Sie fotografieren das Paar, um Blessuren zu dokumentieren. Fotos zeigen eine Verletzung auf Christos Nase, sein geschwollenes Gesicht, das linke Auge ist blutunterlaufen, auf dem rechten Unterarm verläuft ein roter Riss wie ein Bluterguss. Das Fußgelenk der schwangeren Maria ist geschwollen und dunkel verfärbt.

Die Angehörigen sind an diesem Abend schockiert. Sie rufen einen Krankenwagen und die Polizei, noch in der Nacht nehmen zwei Beamte ihre Anzeige auf und sichern Spuren. Die Baltevs werden in die Notaufnahme gebracht. Maria hat Angst um ihr ungeborenes Kind.

Im ärztlichen Befund vom Klinikum Chemnitz sind „Gewalteinwirkung gegen den Bauch“ und eine „Fußprellung“ vermerkt. Zur Sicherung der Schwangerschaft bleibt sie zwei Tage in der Frauenklinik.

Polizeigewalt gegen eine Schwangere? Wie konnte es dazu kommen? Ist hier ein Einsatz eskaliert, möglicherweise wegen Verständigungsproblemen? Oder gingen die Beamten rücksichtslos vor, weil sie es mit Migranten zu tun hatten?

Die Baltevs sitzen am Küchentisch. Sie wollen ihre Version der Geschichte erzählen. Abwechselnd nehmen sie ihren Sohn auf den Schoß, mit dabei: Christos Schwester, der Schwager, ein Sozialarbeiter von der Opferberatung RAA Sachsen und eine Übersetzerin.

Mit ruhiger Stimme erzählt Christo Baltev auf Bulgarisch, wie sie vor vier Jahren aus Pleven im Norden Bulgariens nach Deutschland kamen, weil sie sich hier bessere Chancen für ihre Kinder erhofften. Der deutsche Staat kümmere sich, sagt er. Hier sei es sicherer als in Bulgarien. Früher hat er auf dem Bau gearbeitet. In Deutschland nahm er jede Arbeit, die er bekommen konnte. Er war Reinigungskraft, zuletzt Hausmeister, jetzt macht er einen Sprachkurs.

Baltev wiederholt Szenen, die sich offenbar eingebrannt haben: vom Polizisten, der gegen die Tür des Badezimmers tritt, wo sich die Tochter aufhält. Baltev stellt die Ausweiskontrolle nach, hält sich die Hand vors Gesicht, sagt verächtlich: „Ah, bulgarisch.“

Anfangs sei er noch ruhig gewesen. Dann habe er sich aufgeregt, weil der Polizist seine Tochter filmte, die noch nackt war. Je länger er erzählt, desto stärker gestikuliert er. Boxt in die Luft vor seine Brust, um zu zeigen, wie er gestoßen wurde. Verschränkt die Arme hinter dem Rücken, als würde er in Handschellen gelegt. Steht auf, um zu zeigen, wie er vor der Spüle zu Boden gebracht wurde. Deutet auf die Wand, wo das Handtuch hing, das ihm auf den Kopf gelegt worden sei, um Rufe nach seiner Frau zu unterdrücken. Mit angewinkeltem Bein demonstriert er, wie Polizisten auf ihm gekniet hätten.

Polizeigewalt gegen eine Schwangere?

Seine Erzählung springt in der Chronologie, aber Gestik, Mimik und die aufgeregte Stimme vermitteln den Eindruck: Er erzählt aus eigenem Erleben. Auf Deutsch wiederholt er, wie er am Boden liegend flehte: „Bitte, bitte, bitte“ und „Wasser, Wasser, Wasser.“ Baltev berichtet von Tritten und glaubt, dass er das Bewusstsein verlor, als er auf dem Boden lag.

Seine Frau Maria will ihm beistehen. In ihrer Nacherzählung legt sie sich ebenfalls beide Hände auf den Rücken: die Handschellen. Die hochschwangere Frau zeigt auf den Boden. Der Übersetzerin zufolge sagt Maria, sie sei über den Boden geschleift worden. Im April war sie in der 25. Schwangerschaftswoche. Das Paar beteuert, man habe die Beamten mit Gesten auf ihren Babybauch hingewiesen.

Erst als ihr Sohn rief, habe man Maria erlaubt, hinzugehen. In Handschellen. Die habe man ihnen erst später abgenommen. Die Polizei verständigte den Rettungsdienst, der die Baltevs untersuchte, danach waren sie wieder allein. Bis die Schwester mit dem Schwager kam, der erneut den Notruf wählte.

Polizeigewalt gegen eine Schwangere – ist das glaubwürdig? Laila Abdul-Rahman ist Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ am Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Uni Bochum. Zwischenergebnisse der Studie mit mehr als 3000 Fällen zeigen: Das Dunkelfeld ist bei diesem Thema sechs Mal größer als das Hellfeld: Die allerwenigsten Opfer zeigen Polizisten überhaupt an. Nur in fünf Prozent der Fälle spielt sich Polizeigewalt in Wohnungen ab, der bürgerlichen Intimsphäre, im toten Winkel. Wo es anders als bei Demos keine unbeteiligten Zeugen gibt.

Typische Muster

Kommt es im Wohnumfeld zu Polizeigewalt, sind nach Erkenntnissen der Bochumer Kriminologin auffallend oft Migranten beteiligt. Die Sozialforscherin fühlt sich an einen Fall aus Dortmund erinnert, wo ein Verfahren gegen Polizisten mit der Begründung eingestellt worden sei, dass der Widerstand der schwangeren Besitzerin einer Shisha-Bar durch Schläge ins Gesicht gebrochen werden musste. Der Fall aus Chemnitz weise durchaus typische Muster auf. Immer wieder bekommen Frauen bei Polizeieinsätzen etwas ab, die ihren Männern helfen wollen.

Oft löst ein Trigger die Gewalt aus, sagt Abdul-Rahman. Die Baltevs haben eine Vermutung, was der Auslöser war. Herr Baltev bildet mit den Daumen und Zeigefingern ein imaginäres Rechteck vor seinem Mund und gestikuliert mit dem Zeigefinger. So habe er die Polizisten aufgefordert, eine Maske zu tragen. Wegen Corona. Seine Frau ergänzt: Vielleicht dachten sie, man wolle ihnen den Mund verbieten.

Abdul-Rahman kennt solche Missverständnisse. Nicht selten gehen unangemessener Polizeigewalt aufgeregte Diskussionen voraus. Typische Auslöser sind der Forscherin zufolge bedrohlich wirkende Handbewegungen. Sprachprobleme spielten in Eskalationsverläufen eine große Rolle, aber auch Vorurteile.

Die Forscherin hält es für denkbar, dass eine Familie aus Südosteuropa antiziganistische Vorurteile gegen Sinti und Roma weckt: „Solche Stereotype wirken sich immer auf die Ansprache und die durchgeführten Maßnahmen aus.“ Maria und Christo Baltev haben beide schwarze Haare, braune Haut, dunkle Augen.

Missverständnisse oder Rassismus?

Die Anwältin der Familie, Kristin Pietrzyk, hat drei Monate nach dem Vorfall noch keine Akteneinsicht erhalten. Auch sie geht von Rassismus aus, wenn derart „gegen Angehörige einer marginalisierten Gruppe“ vorgegangen werde. Kein Einzelfall. Ein ausländischer Mandant von ihr sei nach einer Polizeikontrolle am Stadtrand ausgesetzt worden. Ihr Eindruck: „Leute mit Migrationshintergrund werden von der Polizei in Chemnitz anders behandelt.“

Beim letzten Sachsen-Monitor vom November 2018, einer Studie über politische Einstellungen, stimmte mehr als die Hälfte der Befragten voll oder zum Teil der Aussage zu, das Land sei durch die vielen Ausländer gefährlich überfremdet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieses Denken auch in Sachsens Polizei verbreitet ist. Nur spricht kaum jemand darüber. Als der sächsische SPD-Vorsitzende Martin Dulig eine Debatte darüber anregte, wurde er vom Koalitionspartner CDU attackiert. Wie so oft bei Kritik an Missständen wurde ihm „Sachsen-Bashing“ vorgeworfen.

Ein ehemaliger Polizeischüler hat das Schweigen gebrochen. Simon Neumeyer kam aus Köln nach Leipzig, wo er bis Mai 2017 die Polizeifachschule besuchte und zum Außenseiter wurde, weil er offenem Rassismus widersprach. Später berichtete er nicht nur öffentlich über Mitschüler, die in Chats Hass auf Afrikaner verbreiteten, sondern auch über rassistische Sprüche von Ausbildern. Wer schlecht über Kameraden redet, gilt schnell als Verräter. In sozialen Netzwerken wurde Neumeyer angegriffen. Seine Erfahrungen fanden zwar bundesweit Beachtung.

Wie auch der Skandal um zwei sächsische SEK-Beamte, die einen Kollegen als „Uwe Böhnhardt“ in eine Liste für den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdogan eintrugen. Böhnhardt war NSU-Terrorist. Die beiden Beamten wurden zwar suspendiert, eine grundlegende Untersuchung rechter Tendenzen in Sachsens Polizei fand aber nicht statt. Der innenpolitische Sprecher der mittlerweile mitregierenden Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann, fordert daher schon länger „eine wirklich unabhängige Kontrolle der Polizei“.

Die Polizeidirektion Chemnitz bestätigt auf Anfrage den Einsatz bei Familie Baltev. Nachbarn hätten sich über laute Musik und Schreie beschwert. Schon vor dem Haus sei Lärm zu hören gewesen. Die polizeilichen Maßnahmen zielten demnach darauf, den Lärm zu beenden und festzustellen, ob gegen die Corona-Schutzverordnung verstoßen wird.

Aufklärung unwahrscheinlich

Die Polizei bestätigt, „aufgrund des Verhaltens der Mieter unmittelbaren Zwang angewendet“ zu haben. Aufgrund laufender Ermittlungen, in die auch die „Auswertung des aufgezeichneten Videomaterials“ einfließe, werde man keine weiteren Angaben zu Abläufen und Handlungen machen.

Aussage gegen Aussage – eine typische Konstellation bei Beschwerden über Polizeigewalt. „Meistens geht es ja darum nachzuweisen, dass unverhältnismäßige Gewalt angewendet wurde“, sagt Gewaltforscherin Abdul-Rahman. „Wobei es die Opfer von rechtswidriger Polizeigewalt schwer haben, dass ihnen geglaubt wird.“ Empirisch betrachtet seien die Chancen gering, dass es zur Anklage kommt: „Die Beamten sind strukturell im Vorteil. Ihre Glaubwürdigkeit wird per se höher eingestuft.“ Zur Aufklärung ist Abdul-Rahman zufolge entscheidend, wie stark die Staatsanwaltschaft in die Ermittlungen eingreift. In einigen Bundesländern müssten beteiligte Beamte lediglich schriftliche Diensterklärungen abgeben: „Eine wichtige Stellschraube, um Gewalttaten durch Beamte aufzuspüren, ist die mündliche Befragung.“

Wie wurden die Beamten in Chemnitz befragt? Die Polizei lässt die Frage ebenso unbeantwortet wie die Staatsanwaltschaft Chemnitz. „Es ist immer Skepsis angebracht, wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln“, sagt Abdul-Rahman. Doch würden derartige Ermittlungen etwa in Nordrhein-Westfalen von einer anderen Polizeidirektion geführt. „Der denkbar schlechteste Fall ist, wenn die gleiche Direktion gegen die eigenen Beamten ermittelt.“ Wie in Chemnitz.

Viel spricht dafür, dass kein Gericht klären wird, ob das Vorgehen der Polizei gegen die Familie Baltev rechtswidrig war. Der von der Familie eingeschalteten Beschwerdestelle des Landes fehlen wichtige Befugnisse für eigene Untersuchungen. Es bleiben die ärztlichen Befunde über eine Thoraxwandprellung des Vaters und die Fußprellung seiner Frau, die nach dem Polizeieinsatz zwei Tage lang in der Frauenklinik lag.

Während des Interviews kommt die achtjährige Tochter in die Küche. Als sie das Gespräch hört, beginnt sie zu weinen und ringt nach Luft. Ihre Tante versucht, sie zu beruhigen und schickt sie zum Spielen. Die Eltern berichten, dass die Tochter immer wieder so reagiert, wenn die Erinnerung an jenen Aprilabend hochkommt, als es an der Tür klingelte.


Die Reportage erschien am 10. August 2020 im Tagesspiegel, Seite 3

ein Beitrag von:
Michael Kraske


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über den Autor
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Michael Kraske, geboren 1972 in Iserlohn, Studium der Politikwissenschaft, Journalistik und Neueren Geschichte. Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule. Sein politisches Sachbuch “Der Riss - Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört” (Ullstein 2020) stand auf der Bestenliste von DIE ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur und wurde mit dem renommierten Spezialpreis der Otto-Brenner-Stiftung für kritischen Journalismus ausgezeichnet. Aktuell: “Tatworte - Denn AfD & Co. meinen, was sie sagen” (Ullstein 2021) sowie als Mit-Herausgeber “Demokratie braucht Rückgrat - Wie wir unsere offene Gesellschaft verteidigen.” (Ullstein 2021). Sein Roman-Debüt "Vorhofflimmern" (freiraum-verlag 2016) erzählt von einer Hamburger Familie, die in den deutschen Osten auswandert und an rechter Gewalt zu zerbrechen droht. Der Roman “24/7” (freiraum-verlag 2018) handelt von Versuchung und Verführbarkeit.

Reportagen, Porträts und Essays u.a. für Spiegel Online,  Die Zeit, stern,  Geo, Tagesspiegel und Psychologie Heute,. Der Autor ist gefragter Gesprächspartner in Radio und TV zu den Themen Ostdeutschland, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus und wurde mehrfach für seine publizistische Arbeit ausgezeichnet. Neben sozialen und politischen Themen publiziert Kraske auch zu psychischen Krankheiten, Liebe und Tod.  Seine Geschichten erzählen von Ausgebrannten, Revolutionären, Borderlinern, Escort-Damen, Hassobjekten, Depressiven, Lebensrettern, Geflüchteten und Sterbebegleitern. Seit vielen Jahren beschreibt er die Folgen einer gesellschaftlichen Radikalisierung durch Rassismus, rechte Gewalt und institutionelles Versagen und schaltet sich essayistisch in gesellschaftliche Debatten ein. 

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